DEAF HAVANA
DEAF HAVANA
James Veck-Gilodi ist auf Konfusion, sogar auf Aufregung, vorbereitet. Deaf Havanas Frontmann und Songwriter weiß genau, dass einige Fans vom fünften Album seiner Band überrascht sein werden. Denn auf Rituals verwandelt sich der Hardrock des beliebten Britrock-Quintetts in, nennen wir es, so etwas wie Hardpop.
Ja, die robusten Riffs, die den UK-Top 5-Vorgänger All These Countless Nights im letzten Jahr ausgemacht haben, sind noch immer vorhanden. Aber seit der Veröffentlichung dieser Scheibe haben sich Deaf Havana neu erfunden, aufgestellt und verjüngt; sie sind bereit für den nächsten Karriereabschnitt. Mit erst 28 Jahren hat sich Veck-Gilodi zu einem Songwriter und Produzenten mit selten gehörtem Faible für Melodien gewandelt, während er aber gleichzeitig auch nicht den Kontakt für die Rock’n’roll-Befindlichkeiten und die intensive emotionale Ehrlichkeit verloren hat, die Deaf Havana zu einer der Protagonisten des Alternative Rocks gemacht haben.
Ähnlich wie die Art, Songs zu schreiben – schnell und mutig – bringt er seine Philosophie auf den Punkt: „Ich glaube, das sind die besten Songs, die ich bisher geschrieben habe, von den Texten her ehrlich und sehr tiefgehend.“
Für Veck-Gilodi ist Rituals eine neue Ausrichtung auf verschiedenen Ebenen. Für das letzte Album benötigte die Band satte fünf Jahre, obwohl sie es komplett live eingespielt hat. Man muss hier leider das altbekannte Klischee von Plattenfirmen-Politik bemühen. Rituals dagegen wurde in weniger als drei Monaten geschrieben und aufgenommen; und es ist im Prinzip ein Alleingang des Frontmanns.
„Sicherlich ist es eine Platte der gesamten Band”, erklärt er, „aber das Ganze ist eine sehr persönliche Sache, ein Alleingang, der mir einiges von der Seele genommen hat. Ich schreibe normalerweise über dieselben Dinge, also eher persönliche Erfahrungen, aber diesmal wusste ich, dass ich dem Ganzen ein übergreifendes Thema geben wollte. Also habe ich religiöse Themen als Metaphern benutzt – eine Metapher auch für mich. Ich bin nämlich manchmal ein richtiges Arschloch!”, lacht er, bodenständig wie eh und je und sofort jeden möglichen Anflug von Hochnäsigkeit ausschließend.
Den thematischen Rahmen setzte er schon zu Beginn in den Vordergrund, indem er ganz simpel mit 12 Songtiteln anfing. „Das gab das Ziel vor. So konnte ich mit einem Chorus, einem bestimmten Wort oder Thema, das mit dem Ganzen zusammenhing, arbeiten – also Wake, Sinner, Ritual, Hell, Holy, Saviour“. So jedenfalls erklärt er die ersten sechs Songs von Rituals.
„Ich habe so etwas noch nie gemacht. Tatsächlich muss man sagen, dass alles an diesem Album absolut neu für mich war. Normalerweise komponiere ich auf einer akustischen Gitarre, aber diesmal habe ich viel am Computer gearbeitet und einen Großteil der Produktion selbst übernommen. Ich würde allerdings nicht behaupten, dass ich mich dabei sonderlich wohl gefühlt habe – am Anfang hatte ich keine Ahnung, was da überhaupt gemacht habe! Aber wir haben es dann doch irgendwie geschafft…“
Deaf Havana beendeten den Tournee-Zyklus zu ihrem vierten Album im November 2017. Zwölf Jahre nach der Gründung der Band in einer Schule in Norfolk, war es das erfolgreichste Jahr ihrer Historie. Laut Veck-Gilodi gab es reichlich Höhepunkte, aber: „In Deutschland haben wir es richtig geschafft – die Ticketverkäufe haben sich innerhalb dieses Jahres verdoppelt.“
„Ich weiß, es hört sich blöd an und ehrlich gesagt gebe ich auch nicht viel auf dieses Dinge, aber die Tatsache, dass wir ein Top 5-Album in Großbritannien hatten ohne Radio-Airplay und Unterstützung irgendwelcher namhaften Business-Größen – darüber war ich sehr erfreut.“ Im letzten Jahr gab es aber noch einen anderen Durchbruch, den Auftritt auf dem Glastonbury-Festival. „Das fühlte sich wie ein richtiger Erfolg an – eine Band wie wir spielt normalerweise nicht auf solchen Festivals; uns sieht man eigentlich nur auf den üblichen Alternative Rock-Open Airs. Wir haben auch in Europa einige Hallenshows mit den Kings Of Leon gespielt, die supernett zu uns waren. Wir waren überhaupt oft auf Tour mit Bands, die sehr komisch sein können, aber sie haben sich alle sehr gut um uns gekümmert – wir waren jeden Abend bestens versorgt, wenn man weiß, was das heißt”, grinst er.
Für Veck-Gilodi endete das Jahr also positiv, aber es ging sofort weiter. Also, irgendwie. „Weil das letzte Album fünf Jahre dauerte, hatte ich Angst, mit diesem anzufangen. Es waren diese typischen Selbstzweifel: Wie bekomme ich ein weiteres Album hin? Also habe ich alles Nötige mit auf Tour genommen, um zu schreiben, aber das habe ich natürlich nicht geschafft, denn ich Idiot war die ganze Zeit betrunken.”
Endlich zuhause, hatte er im besten Fall „vier Demos mit ziemlichem Mist drauf, Zeug, das man noch nicht mal für B-Seiten benutzen konnte. In dem Jahr habe ich nichts Gutes auf die Reihe bekommen.“ Im Januar 2018 war er wieder zuhause im Norden von London. Vor sich ein leeres Blatt Papier. Abgesehen von den besagten vier Demos gab es nur einen Teil eines Songs, den man vielleicht benutzen konnte. Das war es, mehr nicht.
Um seinem Sänger aus dieser Patsche zu helfen, lud Deaf Havanas FOH-Mischer Phil Gornell ihn zu sich nach Hause in sein Studio nach Sheffield ein. „Eigentlich sollten es nur drei Tage werden, für nur ein Demo, aber am Ende bin ich drei Monate dort geblieben. Phil und ich haben geschrieben und aufgenommen. Wir hatten schlechte Einfälle und haben sie verworfen. Wir hatten bessere und haben sie behalten.”
Der Rest der Band – sein Bruder Matthew (g), Lee Wilson (b), Tom Ogden (dr), Max Britton (keys) – kam dann für die Aufnahmen dazu, „aber grundsätzlich eigentlich waren es nur Phil und ich in einem dunklen Raum in Sheffield.”
„Phil denkt anders über Musik als ich”, erklärt er die kreative Chemie zwischen den beiden. „Ihn interessieren Texte nicht, er steht auf Melodien. Ich feile manchmal Urzeiten an einem Text, davon hat er mich abgebracht. Ich glaube nicht, dass ich dieses Album so geschrieben hätte ohne Phils Hilfe – er hat etwas in mir ausgelöst, mich von etwas befreit. Ideen, die ich vielleicht als Mist verworfen hätte, hat er in richtige Songs verwandelt. Und das ergibt Sinn: Er sieht und hört mich jeden Abend auf Tour. Er kennt mich und meinen Geschmack in und auswendig. Er passte perfekt.”
Deaf Havana haben sich ein Ziel gesetzt: die Aufnahmen Anfang April zu beenden, das Album im August herauszubringen. „Sonst hätten wir das Jahr verloren. Und wir haben es geschafft.“ Der Auslöser für das Ganze war das besagte teils brauchbare Teilstück, das man hätte benutzen können. Aus ihm wurde fast der Titeltrack Ritual, ein Stück mit elektronischem Flair.
„Ich habe meine Depression überwunden“, gibt ein Musiker zu, der seine Kämpfe mit Beklemmungen schon vorher in diversen Interviews diskutiert hat. „Nicht komplett, aber mir geht es gut. Es hört nie auf, aber ich komme jetzt besser damit zurecht. Ich ernähre mich gesund und treibe Sport… Ehrlich gesagt, das ganze Album ist eine Retrospektive. Dieser Song beschreibt meinen Blick zurück, und ist ein Prozess, der mit diesen dunklen Gefühlen aufräumt. Sobald ich anfing ihn aufzunehmen, fiel mir eine Last von den Schultern.“
Dieser positive Enthusiasmus macht auch die erste Single Sinner aus. Hinzu kommt die Teilnahme des ‘London Contemporary Choir’, der auch auf vier anderen Stücken zu hören ist: auf Heaven, dem Opener Wake, der zweiten Single Holy und Saint.
„Sinner ist richtig poppig”, gibt Veck-Gilodi fröhlich zu, „und ist sehr weit weg von unserem älteren Zeug; aber nicht ganz so wie einige der anderen Songs, wie Fear zum Beispiel, was fast tanzbar ist.”
Hell ist ein weiteres Beispiel für die Weiterentwicklung. „Wir haben ein bisschen mit Drum Loops herumgespielt. Dabei hatten wir den Placebo-Song ‘Pure Morning’ im Hinterkopf, der aus einer Note, einem Brummen besteht, und überlegten, ob wir nicht etwas Ähnliches zustande bringen könnten.“
„Auch hier geht es wieder darum, wie man Leute scheiße behandelt. Die ganze Platte dreht sich im Prinzip darum, wie ich mich entschuldige. Mea culpa. Es geht um das Leben auf Tour vor dem letzten Album. Das ganze Album ist eine Zusammenfassung früherer Versionen von mir. Einiges ist ein wenig übertrieben, also ein klein wenig fiktional.“
„Ich bin davon überzeugt, dass ich diese poppigeren Momente in meine Musik habe einfließen lassen, weil ich mich befreiter fühle in meinem persönlichen Befinden”, fährt er fort. „Aber im Ernst, ich habe das nicht geplant – sie kamen einfach aus mir heraus. Es gab keinen Masterplan, nach dem Motto: Wie wird unsere Band so richtig erfolgreich?“, lacht er. „Diese Melodien auf dem PC zu schreiben war ein ziemlicher Zufall.”
In diesem Sommer werden Deaf Havana schon einige ihrer neuen Stücke auf einigen der größten Bühnen vorstellen: zum Beispiel auf den Reading/Leeds- Festivals, wo sie ihre einzige Festival-Show in Großbritannien spielen werden, als letzte Band vor dem Headliner Pendulum auf der ‚Radio 1‘-Bühne.
Um mit Rituals zu touren, da ist sich James Veck-Gilodi sicher, brauchen sie ein größeres Equipment. „Wir haben schon ein paar Keyboards, die mein Bruder Matty und ich spielen können. Aber einige dieser komischen Drum-Sounds benötigen auch entsprechende Technik, in die wir investieren müssen. Ich möchte das nicht alles aus dem Computer kommen lassen.“
Auch an der visuellen Umsetzung des neuen Konzepts arbeiten sie zurzeit hart. Jeder Song auf Rituals wird mit einem Symbol versehen sein („nein, keine dämonischen Beschwörungen!”). Das Artwork des Covers hingegen stammt von einer jungen Künstlerin und Fotografin namens Wolf James; speziell ihre Ausstellung ‘My Love Is Lethal‘ dient dabei als Grundlage („das wäre übrigens ein großartiger alternativer Titel für das Album gewesen“).
Konzept, Titel, Komponieren, Aufnahmen, Schnelligkeit, Bilder, Sound, Atmosphäre: Das gesamte Rituals-Packet ist genau das, was sich James Veck-Gilodi für Deaf Havanas fünftes Album gewünscht hat.
„Ich wollte etwas Drastisches kreieren”, meint er, noch völlig außer sich von dem Ergebnis, „und nicht noch eines dieser gefälligen Mainstream-Rockalben. Ich habe Lust auf den Hass einiger Fans, und ich habe Lust darauf, neue zu gewinnen. Aber wenn die Fans es hören, werden sie hoffentlich nach ihrem Ärger verstehen, dass die Texte genauso persönlich und intensiv sind wie früher. Ich habe sowieso immer Songs mit Popstrukturen geschrieben – ich habe sie bloß immer irgendwie anderweitig versteckt.“
„Das ist das erste Album, das ich komplett für mich allein gemacht habe“, endet er. „Das ist die Musik, die ich zum jetzigen Zeitpunkt machen wollte und ich bin keine Kompromisse eingegangen. Das sind die Songs, die ich schreiben wollte und die die Leute hören sollen.“